Offener Brief an Veranstalter*innen und Festivalleiter*innen des zeitgenössischen Zirkus
Festival abgesagt! Festival verschoben! Festival in veränderter Ausgabe! Festival-Ersatzprogramm! Festival in Not! …
So lauten die Veröffentlichungen der Festivalschaffenden seit der Erklärung des Corona-Virus zur Pandemie und, in Reaktion auf diese, den beschlossenen Maßnahmen der Politik. Bis 31.8.2020 ist das die Normalität und es steht zu befürchten, dass diese Einschränkungen nicht mit einem Datum enden werden, sondern Teil einer neuen Normalität bleiben, so, wie das Corona-Virus Teil unserer Normalität ist. Im wirtschaftlichen Zentrum Europa angekommen, hat es die Wirkung, Freiheits-, Grund- und Menschenrechte aus den Angeln zu heben. Wir schauen hier jetzt nicht nach Afrika, Amerika, Asien, in den Nahen Osten oder an die europäischen Außengrenzen, wo es noch ganz andere Auswirkungen haben wird! Es geht hier aber weniger um die Frage, ob die in Deutschland getroffenen Massnahmen sinnvoll und gerechtfertigt sind oder nicht, sondern um den Fakt, dass sie existieren und Vieles verändern! Die Analysen, ob sinnvoll und gerechtfertigt, sind wissenschaftlicher, sozialer, kultureller, politischer und leider allen voran, wirtschaftlicher Art! Und das Verhältnis zwischen diesen Faktoren ist mäandernd, d.h. nicht zu fixieren!
Doch der Einschnitt in das Leben der Menschen ist keine Krise, denn die würde ja durch wirksame Massnahmen wieder beendet werden können, sondern eine zukunftswirksame
Normalität. Wellen von Neu- oder Wiederinfektionen, weitere Gesundheitsbedrohungen, Beibehaltung und/oder Wiederaufnahme der erprobten Einschränkungen, etc, werden uns weiter begleiten.
Und wie stehen wir mit unseren Festival dazu? Was ist ein Programm ohne die Mobilität der Künstlerinnen, des Publikums und der Räume? Ohne die Rechte auf Begegnung und Bewegung? Wie können wir auf nur einem Bein stehen?
Wie werden Festivals gestaltet sein, die wir im Herbst 2020, im Frühjahr und Sommer 2021 veranstalten werden? Es werden nicht mehr die gleichen Festivals sein, so, wie wir sie kennen.
Die Suche nach Optionen, nach einer Entwicklung, nach einer Neudefinition hat schon begonnen. Wir wechseln ins Digitale, ja, in den virtuellen Raum. Oder wir schneidern am Rezeptionsraum: weniger Zuschauer*innen, mit bemessenem Abstand, mit Maske, etc. Wir schieben, stückeln, formatieren, bis … ja, bis was? Bis zu einem Verschnitt oder gar bis zur völligen Auflösung, weil keine und zu geringe (finanzielle) Unterstützung vorhanden ist? Wenn wir jetzt nicht aktiv, kreativ und kollektiv unsere Festivals neu erschaffen, bleiben wir stehen … auf einem Bein!
Wie geht es aber weiter?
Es bedarf einer Demonstration der Künste, wenn die fundamentalen Werte der Kunst wie Aufeinandertreffen, Erkennen, Präsentieren etc. nicht mehr möglich sind. Wenn Kunst nicht mehr erfahren werden kann, sondern nur sich selbst repräsentiert, sollten wir handeln! Eine Entsprechung findet bei den politischen Aktivisten statt. Unser fundamentales Recht auf Versammlung und Meinungsfreiheit ist eingeschränkt, es wird sogar behindert, obwohl die physical distance und andere Auflagen eingehalten werden. Gerade deshalb entstehen neue politische Demonstrationen wie Beispiele von Seebrücke oder #leavenoonebehind zeigen. Die Demonstrationen der Künste sollen im Dreiklang Künstler, Raum/Veranstalter, Publikum, entstehen und unser Recht auf Begegnung, Diskurs und Aufführung bekräftigen. Es ist dringend notwendig in dieser Normalität anzukommen, um Positionen zu schaffen, Definitionen zu verändern, neue Formate und ungewohnte Räume zu gestalten in Bezug auf:
• Interaktion zwischen Künstler und Publikum (physical distance, not social distance)
• site specific performances
• Verhältnis Virtualität und Analogie (Grenzbereiche, Modulation etc.)
• Entdeckungen des kinespärischen Raumes
• durational performances (Dauer, Wiederholung etc.)
• etc.
Das Publikum ist unser zweites Bein und es geht nun darum, den Zugang zu Kunst, Rezeption und Auseinandersetzung zu bewahren, zu fördern und zu entwickeln. Es ist wichtig, hierfür in den Austausch von Ideen zu kommen, Anregungen und Beispiele zu diskutieren, gemeinsame Initiativen zu starten und mit beiden Beinen zusammen zu stehen! Die Veranstalter*innen und Festivalleiter*innen haben vielfältige, unterschiedliche und gemeinsame Expertisen. Dieses Potential zu nutzen und die Experimente in der Durchführung von Festivals dem Corona-Virus und dem Anteil repressiver Auslegungen von Maßnahmen in den Weg zu stellen, wäre eine wichtige Demonstration unseres künstlerischen, kulturellen, gesellschaftlichen Auftrags!
Im Dienste der Kunst und deren Protagonisten wäre nun Zeit für eine strukturelle
Weiterentwicklung des Formats Festival und ein Ausdruck unserer Ausdauer, unserer Energie und unserer Innovations- und Experimentierfreudigkeit!
Auf einem Bein können wir uns drehen oder wenden, mit zwei Beinen können wir springen! Ich wünsche mir lebendige, kritische, lautstarke, lustvolle und ausufernde Diskussionen mit euch, in Briefen, Kommentaren, Beiträgen und auf Treffen! Take care!
Herzlichst – Andree Wenzel
Hamburg, 21.4.2020